Bernd Allendorf erinnert sich

 

Beitrag zur Festschrift zum 125-jährigen Bestehen des Sinfonieorchesters

 

Als ich mit zehn Jahren aufs Gymnasium kam, interessierte ich mich herzlich wenig für Musik sondern viel eher für Fußball, Räuber und Gendarm und was derlei bubengemäße Beschäftigungen mehr sind. So pflegte ich auch um das in meiner elterlichen Wohnung stehende Klavier einen großen Bogen zu machen. Vielleicht wäre ich nie zur Musik gekommen, hätte da nicht in der Schule neben mir ein gewisser Eckhard Jordan gesessen, der zu dieser Zeit bereits Klavierunterricht erhielt. Immer wieder  schwärmte er mir vor, was für eine tolle Sache das Klavierspielen sei, doch dies zu glauben, wollte mir anfangs nicht recht gelingen. Dies änderte sich erst schlagartig, als ich zum ersten Mal in meinem Leben Zeuge eines Live-Klaviervor­trags wurde. Der „Fröhliche Landmann“ aus dem Schumannschen „Album für die Jugend“, gespielt von unserem damaligen Musiklehrer Bruno Meinhard, wurde für mich zum Schlüsselerlebnis. Dieses an sich wenig anspruchsvolle Anfängerstück beeindruckte mich damals in so überwältigender Weise, dass ich von da an sofort Klavierunterricht nahm und nichts anderes mehr im Sinn hatte, als meinem Freund Eckhard Jordan nachzueifern. Mein Ehrgeiz ließ mich nicht eher ruhen, bis ich auf der gleichen Seite der Klavierschule wie er angelangt war. Als er dann wenig später Geigenunterricht bei Paul Nitsch, dem unvergessenen Gründer der Wermelskirchener Musikschule erhielt, hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als ihm auch dies „nachzumachen“.

 

Nach einem knappen Jahr Geigenunterricht verschaffte Herr Nitsch mir meinen ersten öffentlichen Auftritt anlässlich einer Aufführung von Haydns „Militärsinfonie“. Ich hatte dabei die ehrenvolle Aufgabe, das Triangel zu schlagen: für den damals Zwölfjährigen eine geradezu nervenzerfetzende Angelegenheit. Bei keinem späteren Auftritt habe ich wohl mehr Blut und Wasser geschwitzt als damals. Meine Rettung war, dass ich immer zusammen mit Becken und großer Trommel einsetzen musste, die beide von einem alten und routinierten Spieler bedient wurden. Ohne mich an diesen anhängen zu können, hätte ich mich hoffnungslos verzählt und wäre verraten und verkauft gewesen.

 

Ein weiteres Jahr später bestellte mich Paul Nitsch kurzerhand mit meiner Geige für Freitag Abend in die Gaststätte Kesper (heute Hotel „Zum Schwanen“). Im Saal dieser Gaststätte probte das Orchester, das damals noch „Orchesterverein 1883“ hieß. Ein wenig mulmig wurde mir, als ich am letzten Pult der zweiten Geigen sitzend ohne jede Vorwarnung mit den Zweiunddreißigstel-Läufen im 1. Satz der „Jupiter-Sinfonie“ von Mozart konfrontiert wurde. Etwas derartiges hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn gespielt. Ja dass man so etwas überhaupt spielen könnte, schien mir völlig utopisch. Und so spielte ich es denn auch weder in den Proben noch beim Konzert wirklich richtig sondern pfuschte mich irgendwie durch. Doch erstaunlicherweise schien niemand daran Anstoß zu nehmen, was mir im Nachhinein keineswegs mehr verwunderlich erscheint, gehen doch die besagten Läufe als kleiner geräuschhafter Randeffekt im allgemeinen Getümmel nahezu völlig unter.

 

Dies war meine erste Bekanntschaft mit dem „schöpferischen Mut zur Lücke“, der mir während meiner späteren Tätigkeit als Dirigent der Wermelskirchener Sinfoniker zu einem ständigen treuen Begleiter werden sollte. Ohne diesen Mut, auch einmal Fünfe gerade sein zu lassen, Unwichtiges unter den Teppich zu kehren und sich auf Wesentliches zu konzentrieren, hätte ich oft keine Chance gehabt, in der verfügbaren Zeit zu brauchbaren Resultaten zu gelangen. Für ein Laienorchester ist das Streben nach Perfektion zwar löblich aber letztlich zum Scheitern verurteilt und sollte deshalb den Profis überlassen bleiben. Doch können musikantisches Engagement und das Einfühlen in die Ideen eines Musikwerks diesen Mangel an Perfektion in besonders glücklichen Momenten ausgleichen oder sogar überkompensieren.

 

Edvard Grieg hat einmal sinngemäß gesagt: „Die großen Kathedralen zu errichten, überlasse ich anderen. Ich möchte Hütten bauen, in denen sich die Menschen wohlfühlen.“ In diesem Sinne reicht Griegs Klavierkonzert in formal architektonischer Hinsicht sicher nicht an die Werke eines Beethoven oder Brahms heran. Trotzdem gehört es wohl zu den eindrucksvollsten Stücken, de je geschrieben wurden. Ich erinnere mich an einen Klassenkameraden, der bis dato ausschließlich ein begeisterter Rock ’n Roll-Fan war, aber beim Anhören des Grieg-Konzertes plötzlich einen Zugang zur klassischen Musik fand.

 

Zweimal hatte ich das Vergnügen, dieses Klavierkonzert mit dem Wermelskirchener Orchester zu spielen, und beide Aufführungen sind mit der Erinnerung an den leider allzu früh verstorbenen Eckhard Jordan verbunden. Im Jahre 1980 leitete Paul Nitsch das Orchester, während der vielseitig begabte Jordan in vorbildlicher Manier die Hornsoli gestaltete. 1992 stand letzterer dann selbst am Dirigentenpult und führte uns sicher durch die agogischen Klippen dieses Werks.

 

An die Aufführung 1992 knüpft sich noch eine weitere Erinnerung, nämlich an die Worte des Komponisten Fritz Ihlau, der damals bei dem Konzert anwesend war. „Sie sind Romantiker – wie ich!“ sagte er mir anschließend, und ich glaube, das war vielleicht das schönste Kompliment, das mir während meiner langjährigen Tätigkeit je gemacht wurde. Es ist daher kein Wunder, dass ich zu der Musik Ihlaus, der übrigens im kommenden Jahr 100 Jahre alt würde, eine besondere Affinität verspüre, und daher gerne die Gelegenheit ergreife, anlässlich des Konzerts zum 125-jährigen Orchesterjubiläum eine seiner Kompositionen zu Gehör zu bringen.

 

Es war meines Wissens im Jahre 1993, dass wir Ihlaus „Romantische Ouvertüre“ aufführten und hierfür vom Komponisten selbst großes Lob ernteten. Dieses Stück für das Jubiläumskonzert zu reaktivieren, schien mir jedoch zu riskant, da es sich um ein groß angelegtes und üppig instrumentiertes Werk handelt, das allzu viel Probenarbeit erfordert hätte. Deshalb griff ich auf einen Satz aus der „Serenade für Flöte, Oboe und Streicher“ zurück, die wir im Jahre 1990 aufgeführt hatten. In seiner Mischung aus volksliedhafter Innigkeit  und hochromantischer Harmonik ist dieses Stück ein besonders zu Herzen gehendes Beispiel für Ihlaus musikalische Gefühlswelt. Erfreulicherweise haben sich die Solisten der damaligen Aufführung: Thomas Mattiesson und Corinna Zimmet (geb. Schrage) bereit gefunden, auch diesmal wieder die Soloparts zu übernehmen.

 

Als ich im Sommer 2007 anlässlich meiner Pensionierung den Taktstock in jüngere Hände legte, dachte ich eigentlich, es habe sich um einen endgültigen Abschied vom Orchester gehandelt. Dass ich jetzt – ein knappes Jahr später – erneut mit dem Orchester auftrete (wenn auch nur kurz und gastweise), zeigt, dass im Leben so manches anders kommt als man denkt. Ob es diesmal das endgültig letzte Mal gewesen sein wird, wage ich nach dieser Erfahrung nicht mehr vorauszusagen. Die Zeit muss es lehren.